Oder das Tal aufgeben Buchrezension

Scheidegger_Das Tal aufgeben_1
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6.3 / 10 Bewertung
PRO
  • sehr origineller Zugang zu einer schwierigen Debatte
  • eindrucksvolle Bilder
  • gut lesbare und aufgearbeitete Informationen zum Kontext der Thematik
CONTRA
Testurteil
Oder das Tal aufgeben – Die Lawinenschutzbauten von St. Antönien ist ein sehr gelungenes und daher empfehlenswertes Buch zur Thematik der Lawinenschutzverbauung und deren Vielschichtigkeit, dargestellt am Beispiel des Prättigauer Talorts St. Antönien und dessen Geschichte. Bemerkenswert dabei ist vor allem auch der Zugang mittels einer Fotografie, die das thematisierte Phänomen einmal nicht als selbstverständlich ästhetisch problematisch zeigt, sondern einen ästhetisch offenen Blick anbietet.
Struktur/Aufbau7.5
Preis-Leistung6
sprachlicher Stil6
Qualität7
Umwelt/Nachhaltigkeit5

Fakten

Oder das Tal aufgeben – Die Lawinenschutzbauten von St. Antönien, Fotograf: Kaspar Thalmann, Autoren: Köbi Gantenbein, Stefan Hotz und Nadine Olonetzky, Verlag: Scheidegger & Spiess, ISBN 978-3-85881-478-4

Angaben vom Verlag:

Lawinenschutzbauten sind für alle Alpenländer von zentraler Bedeutung. Dieses Buch bietet eine einmalige Fotodokumentation und die Kulturgeschichte der Bauten am Beispiel von St. Antönien.

Sie sind ästhetisch extrem landschaftsprägend, aber auch lebenswichtig: An den Berghängen oberhalb des Dorfs St. Antönien steht mit rund 16 Kilometern Länge eine der grössten Lawinenschutzverbauungen der Schweiz. Die herausragende Fotoarbeit des Architekten und Fotografen Kaspar Thalmann beschäftigt sich mit brisanten Fragen rund um die Lebensraumsicherung für den Menschen, den Landschafts- und Naturschutz in den Alpen, den Wert sogenannter potenzialarmer Regionen und des Tourismus. Lohnte sich der immense Aufwand? Oder hätte man das Tal aufgeben sollen?

Mit einem Beitrag zur Fotografie von Nadine Olonetzky und zwei Texten zur Kulturgeschichte der Lawinenverbauung des NZZ-Redaktors Stefan Hotz und des Journalisten und Soziologen Köbi Gantenbein.

  • Gebunden
  • 128 Seiten
  • 15 farbige und 34 sw Abbildungen
  • Format: 22 x 27 cm

Rezension Oder das Tal aufgeben

Man hat sich daran gewöhnt: ganze Hangketten, die mit zaunartigen Sperren versehen sind, die durch ihre blosse Präsenz deutlich sein lassen, wie gross die Gefahr sein muss, die da offenbar zu bannen ist. In mehreren Reihen untereinander, auf teilweise grosser Länge und in unterschiedlichen Formen haben sie sich in das heutige Alpenbild eingefügt, die Lawinenschutzbauten, welche teilweise ganze Dörfer, Strassen oder auch Skipisten schützen sollen. Nicht selten ist da von Verschandelung der Landschaft oder aber von Verzweiflungskampf gegen die Natur die Rede. Man denkt an hemmungslos abgeholzte Schutzwälder, in roten Zonen errichtete Gebäude und generell eine martialische Erschliessungspraxis des alpinen Raums, mittels derer sich die Menschheit ihres wehhaften Vermögens gegen die Naturgewalten zu versichern bemüht ist – durch technische Aufrüstung bis an die äussersten Grenzzonen des Machbaren, koste es was es wolle.

Es lohnt allerdings, dieser Assoziationskette noch einige nicht ganz so gängige Glieder einzufügen und damit das Phänomen der Lawinenverbauung anders sehen zu lernen als es wie oben skizziert gemeinhin der Fall ist. Kaspar Thalmanns «Oder das Tal aufgeben. Die Lawinenschutzbauten von St. Antönien» ist als ein Beitrag in genau diesem Sinne zu verstehen: Er lädt dazu ein, die Dinge ganz wörtlich anders sehen zu lernen und die dabei gewonnenen Perspektiven als Resonanzraum für die Beschäftigung mit den verschiedenen Dimensionen der Thematik fruchtbar zu machen.

Im Mittelpunkt steht das nahe der Schweizerisch-Österreichischen Grenze gelegene Prättigauer Taldorf St. Antönien, ein heute sommers wie winters von Berggängern geschätztes Ziel. Fast ebenso bekannt ist St. Antönien aber auch dafür, in besonderer Weise exponiert und durch Lawinen bedroht zu sein – was sich in wiederkehrenden, teilweise dramatischen Verschüttungen manifestierte und schliesslich Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer schweizweit vielbeachteten Diskussion darüber führte, ob es nicht angebracht sei, das Tal «aufzugeben» und die Bewohner zumindest teilweise umzusiedeln. Diese Diskussion wies freilich in der Sache über den Fall St. Antönien hinaus, ging es doch um Grundsätzliches: den Widerstand gegen die Natur und, weiter gefasst, eine nicht nur in symbolischer Semantik adressierte Aufgabe wehrhafter Landesverteidigung.

«Oder das Tal aufgeben» nimmt diese Diskussion wie auch ihre Vor- und Nachgeschichte zum Anlass, die vielschichtige Gemengelage, die dabei im Spiel war, genauer in Augenschein zu nehmen: historisch, politisch und vor allem ästhetisch – in den Details des Prättigauer Beispiels, aber mit Ausstrahlung auch in das Allgemeine der Frage, welche Motive um welchen Preis die Besiedelung unwirtlicher Naturzonen rechtfertigen oder nicht.

Thalmann zeigt dabei die Schutzbauten zunächst einmal konsequent in ihrer ästhetischen Qualität, in kunstfotografischer Annährung. Dabei wird die Geltung der Gleichung «Verbauung gleich Verschandelung» unterlaufen und eine andere, die Eigenart der entstandenen landschaftlichen Strukturen fokussierende Betrachtungsweise der gigantischen Konstruktionen in St. Antönien eröffnet. So gerät der ästhetische Überschuss in den Blick, der die Verbauungen nicht allein als funktionale Schutzeinrichtung, sondern auch die landschaftsbildende und -gestaltende Dimension augenfällig werden lässt. Und hier ist das bei Scheidegger & Spiess erschienene und in gewohnt sorgfältiger Weise hergestellte Buch in seinem Element: es bildet buchstäblich ab, was an Anliegen, Konflikten und Erwartungen hinter diesen Baumassnahmen steckt und wie dies in einer neuen Landschaft gemündet ist. Ausgeleuchtet und kontextualisiert wird dieses «hinter» durch sehr lesenswerte und informative Texte von Stefan Hotz und Köbi Ganterbein, eine eher allgemeiner gehaltene Einordnung der von Thalmann gewählten fotografisch-künstlerischen Programmatik wird eingangs von Nadine Olonetzky beigesteuert.

Zusammenfassend sei Kaspar Thalman und den AutorInnen ein grosses Kompliment ausgesprochen für diesen Band – es wäre zu wünschen, dass die Auseinandersetzung mit entsprechenden Themen öfter auf eine solch vielseitig anregende Weise erfolgt.

Preis

Das Buch Oder das Tal aufgeben kostet 48 € / 49 CHF.

Links

Verlag Scheidegger & Spiess
Auskunft beim Verlag


Fotografien: Copyright © Kaspar Thalmann

ÜBER DEN AUTOR

Jens Badura

Jens Badura testet Ausrüstung für ich-liebe-berge.ch – und schreibt dort wie anderswo regelmässig über alpine Belange diverser Art. Er ist Mitglied der Österreichischen Bergrettung (Ortsstelle Salzburg), Tourenleiter für Berg- und Alpinwandern beim Schweizer Alpenclub (SAC) und Bergwanderführeranwärter beim Verband Deutscher Berg- und Skiführer/Union of International Mountain Leader Association (UIMLA). Er leitet das berg_kulturbüro in Berchtesgaden, führt für die Bergsteigerschule Watzmann und ist Mitglied im Kernteam der Bergwanderakademie „ready to go“ der Bergschule „Alpine Welten“. Er lebt mit seiner Familie und einer Herde Alpiner Steinschafe am Walserlehen in Marktschellenberg.

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