Überlegungen zur Funktion alpiner Vereine

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Service und Anspruch

Hüttenversorgung mit Maultieren, einst „Säumerei“ genannt – das ist zweifellos eine reizvolle Vorstellung. Da werden nicht nur Bilder der „guten alten Zeit“ aufgerufen, sondern auch eingängige Themen wie Nachhaltigkeit oder Traditionspflege kommen einem in den Sinn. Gleichwohl erhalten konkrete Umsetzungsinitiativen wie ein kürzlich in der Sektion Uto des Schweizer Alpenclubs (SAC) vorgeschlagenes Säumerei-Projekt keineswegs nur positive Resonanz.

Fragen, die diesbezüglich von vereinsinternen Skeptikern formuliert wurden, lauten etwa:

  • Ist das nicht ein fragwürdiges nice-to-have-Projekt?
  • Warum, wenn es doch billiger und praktischer ist, nicht einfach bei der vergleichsweise günstigeren und vor allem viel unkomplizierteren Heliversorgung von nicht durch Fahrwege oder Materialseilbahnen erschlossenen Hütten bleiben?
  • Dürfen Gelder der alpinen Vereine für solche Aktivitäten überhaupt eingesetzt werden – sind diese als Teil eines unterstellten volonté génerale der jeweiligen Sektionen zu begreifen – bzw. als Umsetzung eines Vereinszwecks, der im Falle des SAC statutengemäss darin besteht „am Bergsport und an der Bergwelt interessierte Menschen [zu verbinden]“ und dazu „Bergsport als Erlebnis für eine breite Bevölkerung [zu fördern]“, wobei „Seine Aktivitäten (…) sowohl die klassischen Bergsportarten als auch neuere Formen des Freizeit- und Leistungsbergsports [umfassen]“?

Um mit Blick auf das Folgende nicht missverstanden zu werden: oben genannte Fragen sind wichtig und bedenkenswert – doch es wäre schade, wenn es bei derartiger Bedenkenträgerschaft bliebe: weil sich am Beispiel des Projekts „Säumerei zur Versorgung alpiner Schutzhütten“ die Möglichkeit einer wichtigen und viel grundlegenderen Debatte böte: derjenigen nämlich zur Rolle und zum Selbstverständnis der alpinen Vereine hinsichtlich der Entwicklung von Perspektiven zur nachhaltigen Bewirtschaftung des (hoch)alpinen Raumes. Und damit zur konkreten Einlösung eines Zwecks, den sich die alpinen Vereine – zumindest im deutschsprachigen Raum – neben der Förderung des Bergsports auch auf die Fahnen schreiben, konkret den Einsatz „für die nachhaltige Entwicklung und Erhaltung der Bergwelt (…) sowie für Kultur, die im Zusammenhang mit den Bergen steht.“[i]

Letztgenannte Zwecksetzungen legen ja fest, dass der Fokus der Aktivitäten der Vereine nicht allein – direkt oder indirekt – auf der Ermöglichung und Förderung von Wandern und Bergsteigen, Klettern, Mountainbiken sowie der fortlaufend erweiterten bergsportlichen Aktivitäten liegen darf. Und dass es im gelebten Selbstverständnis der Vereine und derjenigen, die sich in ihnen vereinigen, nicht nur um Service und Lobbying (z.B. zur Verhinderung von Zugangsbeschränkungen von Bergzonen oder der Verhinderung von die Wanderumgebung verschandelnden Erweiterung von Skigebieten) gehen sollte. Sondern eben auch darüber hinaus um das Betreiben eines Vor- und Nachdenkens hinsichtlich der Entwicklung des alpinen Raums, inklusive der Rolle, die die in den Vereinen organisierten bergaffinen Mitgliedern aktiv spielen.

Man mag spontan sagen: natürlich geht es auch um Letzteres – eben deshalb ist es ja auch Teil der Statuten bzw. Satzungen von SAC, OeAV und DAV. Aber: neben medienwirksamen Projekten – seien sie im Hightech-Segment à la Monte Rosa Hütte oder eben im Low-Tech-Sektor via Säumerei-Revival – bleibt die in einem weiteren Kontext engagiert betriebene Reflexion innerhalb der Vereine dann doch zunehmend marginal. Angesichts der wachsenden Attraktivität des Bergsports als trendigem Breitensport finden sich solche Grundsatzüberlegungen eher selten im Realzusammenhang der neuen Angebot-/Nachfragelogik im alpinsportlichen Marktgeschehen, zu deren Keyplayern eben auch die alpinen Vereine gehören. Dass nunmehr auf Seiten der Outdoor-Industrie zunehmend umwelt- oder tierfreundlichere Materialien promoted werden, ändert an diesem Befund wenig – denn zweifellos nimmt das Angebot für einen „moralischen Konsum“[ii] im Bergsportsegment zu, die Frage nach der Entwicklung des alpinen Raums als Ort des Geschehens inklusive der Rolle des dort platzierten Konsumgeschehens tut es dabei jedoch nicht.

Der Boom des Outdoor-Sektors hat vielmehr auch zu einer Veränderung der Rolle der alpinen Vereine geführt. Diese werden mehr und mehr als Serviceeinrichtungen für Infrastruktur und Ausbildung gesehen und genutzt – weniger aber im klassischen Sinne als Zusammenhang von Menschen, die sich ehrenamtlich für ein gemeinsames Anliegen engagieren. Damit jedoch wird die Funktion der Vereine als Raum für Debatten und Befragungen von Tendenzen im Bergsport zunehmend nachrangig: wichtig ist, dass die Hütten einladend, Tourenangebote reichhaltig und Wege gut markiert sind. Auch sollte sichergestellt sein, dass im Falle des Falles schnell Hilfe zur Verfügung steht. Ein Projekt wie das der Wiedereinführung der Säumerei kann, wird es nicht entsprechend kontextualisiert, in diesem Zusammenhang schlicht als weitere (Ambiente-)Dienstleitung verstanden werden, verbunden noch mit dem Aspekt der moralischen Entlastung, wie etwa in der folgenden Argumentation: „das Bier, dass ich auf der Hütte trinke, kam auf nachhaltigem Weg in die Höhe. Also konsumiere ich verantwortungsvoll … und leiste meinen Beitrag zur Erhaltung der Bergwelt …“.

„Entsprechende Kontexualisierung“ könnte z.B. heissen, dass hinsichtlich der Hüttenversorgung der Anspruch befragt wird, in hochalpinen Zonen ein taläquivalentes Angebot vorzufinden. Und hier wären m.E. die alpinen Vereine sehr wohl und allen voran gefordert, die Tendenz zur zunehmenden Dienstleistungsrolle nicht auch noch dadurch zu befördern, dass sie als Protagonisten einer klischeehaften Alpenidylle-Produktion fungieren. Das aber erfordert, Projekte wie Säumerei in ein Argumentarium einzubetten, das über praktische Fragen (was kostet es, wie lässt es sich realisieren etc.) hinausgeht. Ein Argumentarium also, das eben den Zweck der Vereine und deren Rolle als Akteure in der Entwicklung des alpinen Raums selbst offensiv reflektiert und dabei über die Professionalisierung des Service-Sektors hinausgeht, um nicht mehr und mehr zu Regisseuren pittoresker Inszenierungen mit Bergkulisse zu werden.

Das Beispiel Säumerei ist vor diesem Hintergrund gerade deshalb interessant, weil sich an ihm die Ambivalenz zeigen lässt, die zumeist mit konkreten Bemühungen wie solchen Pilotprojekten zur Nachhaltigkeit verbunden ist. Diese Ambivalenzen lassen sich wohl nicht auflösen, ihnen sollte aber gerade deshalb dadurch begegnet werden, dass man auf die Widersprüche hinweist, die der Breitenbergsport in seiner heutigen, im Spannungsfeld von Sport, Freizeit- und Eventkultur produziert: einerseits die Erhaltung eines Vorstellungsgebildes von „wilder“ Natur, andererseits infrastrukturell auf hohem Niveau ausgerüsteter Abenteuerspielplatz der Erlebnisgesellschaft, dann als Kulisse für unterschiedliche gastronomische Konsumszenarien usw. Das alles in Gegenden, die ökonomisch häufig strukturschwach und ökologisch sensibel sind – und in denen die ansässige Bevölkerung mangels Alternativen zur Ambiente-Dienstleistung nicht selten gezwungen ist, die eigenen Lebensformen und Umweltgestaltungen auf die Kundenhorizonte auszurichten, also Scheinwelten zu produzieren, in denen sie dann selbst zu leben gezwungen sind.

All diese Themen sind nicht neu und werden schon länger – etwa von den unter dem Dach der CIPRA versammelten Akteuren – verhandelt; jüngst hat auch der CIPRA-Pionier Werner Bätzing in seiner Streitschrift „Zwischen Wildnis und Freizeitpark“[iii] entsprechende Szenarien pointiert gegenüber- und zur Diskussion gestellt. Umso mehr wäre der dort erreichte Debattenstand als Resonanzraum fruchtbar zu machen, wenn über Projekte wie die Wiedereinführung der Säumerei nachgedacht wird. Dann nämlich würde das Thema in Bezug gesetzt zu Fragen der nachhaltigen Entwicklung des Alpenraums im grösseren Zusammenhang, dann könnten die alpinen Vereine wieder stärker als Protagonisten der Reflexion dieses Zusammenhangs in Erscheinung treten und Entwicklungsperspektiven formuliert werden für neue bzw. neue-alte alternative Weisen, diesen Raum zu bewirtschaften.

  • [i] Zitiert aus den Statuten des SAC, Art. 2. In der Satzung des Österreichischen Alpenverein (OeAV) heisst es in § 2: „Es ist Zweck des Vereines, das Bergsteigen, alpine Sportarten und das Wandern zu fördern und zu pflegen – dies in Eigenverantwortung seiner Zweigvereinsmitglieder –, die Schönheit und Ursprünglichkeit der Bergwelt zu erhalten, die Kenntnisse über die Gebirge zu erweitern und zu verbreiten und dadurch auch die Liebe zur Heimat zu pflegen sowie die Wissenschaft und Forschung in diesem Bereich zu fördern. Er ist dem alpinen Natur- und Umweltschutz verpflichtet.“ Beim Deutschen Alpenverein (DAV) heisst es in der Satzung § 2 – Zweck des Vereins: „Zweck des Vereins ist, das Bergsteigen und alpine Sportarten vor allem in den Alpen und den deutschen Mittelgebirgen, besonders für die Jugend und die Familien, zu fördern und zu pflegen, die Schönheit und Ursprünglichkeit der Bergwelt zu erhalten, die Kenntnisse über die Gebirge zu erweitern und zu verbreiten, dadurch die Bindung zur Heimat zu pflegen sowie Wissenschaft und Forschung über diese Bereiche zu fördern.“ Als Mittel zur Zweckerreichung werden in § 3 u.a. genannt „ (…) Förderung des Erhaltens und Betreibens von Hüttenstandorten und Hütten der Sektionen sowie das Erhalten und Betreiben von eigenen Hütten als Stützpunkte zur Ausübung des Bergsteigens und der alpinen Sportarten sowie des Erhaltens von Wegen; (…) Förderung des Errichtens, Erhaltens und Betreibens künstlicher Kletteranlagen der Sektionen sowie das Errichten, Erhalten und Betreiben von eigenen künstlichen Kletteranlagen; (…) Schutz und Pflege von Natur, Landschaft, Tier- und Pflanzenwelt der Alpen und der deutschen Mittelgebirge, insbesondere bei der Ausübung des Bergsteigens, der alpinen Sportarten und der Unterhaltung von Hütten und Wegen (…).
  • [ii] Vgl. dazu Priddat, Birger : Moralischer Konsum. 13 Lektionen über Käuflichkeit, Stuttgart : Hirzel 1998.
  • [iii] Bätzing, Werner: Zwischen Wildnis und Freizeitpark. Eine Streitschrift zur Zukunft der Alpen, Zürich: Rotpunktverlag 2015.

Bild: Maultierkarawane im Saastal um 1930, Foto: Perrochet & Phototype S.A. Lausanne, MAULTIER-MUSEUM

ÜBER DEN AUTOR

Jens Badura

Jens Badura testet Ausrüstung für ich-liebe-berge.ch – und schreibt dort wie anderswo regelmässig über alpine Belange diverser Art. Er ist Mitglied der Österreichischen Bergrettung (Ortsstelle Salzburg), Tourenleiter für Berg- und Alpinwandern beim Schweizer Alpenclub (SAC) und Bergwanderführeranwärter beim Verband Deutscher Berg- und Skiführer/Union of International Mountain Leader Association (UIMLA). Er leitet das berg_kulturbüro in Berchtesgaden, führt für die Bergsteigerschule Watzmann und ist Mitglied im Kernteam der Bergwanderakademie „ready to go“ der Bergschule „Alpine Welten“. Er lebt mit seiner Familie und einer Herde Alpiner Steinschafe am Walserlehen in Marktschellenberg.

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