Positionspapier: Risiko als Risiko. Ein Plädoyer für die Urteilskraft

RISIKO BADURA

Risiko als Risiko. Ein Plädoyer für die Urteilskraft

von Jens Badura (1)

„Elementare Reduktions-Methode“ oder „Stop-Or-Go“? Lawinenairbag ja oder nein? Helme für Tourenskigänger – eine Pflichtsache oder auf freiwilliger Basis? Auch im kommenden Winter werden diese und thematisch verbundene Fragen wieder rege öffentlich diskutiert werden – spätestens dann, wenn die ersten Lawinentoten zu beklagen sind und die Konjunktur des Konjunktiv (hätten sie doch … wären sie nicht) wieder anzieht.(2) Dabei wird, dem Markt sei Dank, nach besserem und mehr Equipment gerufen werden, aber sicher auch nach mehr Regeln, Regelanwendungsdisziplin und Verboten und vor allem nach mehr und konsequenter betriebenem Risikomanagement. Für Letztgenanntes sind im Bergsportdiskurs die vor allem in der Schweiz etablierte „Reduktionsmethode“ oder das in Österreich favorisierte „Stop-Or-Go“-Prinzip quasi Synonyme geworden und seit den zu ihrer Entstehungszeit in den 1980er Jahren gleichermassen revolutionären wie umstrittenen Arbeiten von Werner Munter (3) zum must have geworden – für jegliche Wintersportaktivität im freien Gelände, aber darüber hinaus auch den Bergsport insgesamt.(4) Dass man sich offensichtlichen oder erwartbaren Gefahren, sei es beim Tourengehen, Alpinklettern, aber natürlich auch in anderen Lebensbereichen, nicht einfach schicksalhaft unterwirft, scheint auf Basis dessen, was man den „gesunden Menschenverstand“ nennt, unstrittig zu sein: vielmehr wird man in der Regel darum bemüht sein, das Verhältnis aus erhofftem Erlebnis- oder aber auch Geldgewinn bei einem Investmentgeschäft und zu befürchtender Selbst- bzw. Fremdschädigungen, Geldverlust oder gar Tod in vernünftiger Weise abzuwägen. Weitgehend unstrittig ist aber heute offenbar ebenso, dass diese Abwägung im Rahmen eines systematischen Risikomanagements zu erfolgen hat, ja: nur auf diesem Wege erfolgen kann und soll.(5) Strittig ist dabei meist nur, welche spezifische methodische Ausrichtung innerhalb der Angebotspalette von Risikomanagement-Strategien gewählt und wie diese in sachlich und pädagogisch geeignete Tools übersetzt werden kann. Der Umstand an sich, dass der Umgang mit Abwägungsfragen oben genannter Art so selbstverständlich im Format eines Risikomanagement-Denkens operationalisiert wird, wird hingegen kaum thematisiert – so alternativlos scheint das Risikoprinzip geworden zu sein. Gerade das aber sollte misstrauisch machen: immer wenn das TINA-Prinzip (6) im Anflug ist lohnt es, sich die Bedingungen dafür anzuschauen, warum etwas so selbstverständlich und naheliegend scheint wie es das tut. Und auch im Falle des Risikomanagements gilt es zu fragen, welche Mechanismen der Gedankenführung hier am Werke sind und welche Voreinstellungen im Umgang mit Unsicherheit und Gefahr dadurch stattfinden. Anders gesagt: es gilt zu fragen, welche Wirkungen die Allgegenwart eines Denkens in Kategorien des Risikos für die Ausbildung unserer Urteilskraft wie auch unserer Handlungskompetenz im Umgang mit – im wörtlichen wie übertragenen Sinn – unversicherten Lebenssituationen hat, denn solche gibt es und wird es geben, aller Risikokalkulationen zum Trotze. Diesen Fragen nachzugehen, auf zuweilen etwas steinigen und manchem vermutlich auch zunächst abwegig scheinenden Pfaden, ist das Anliegen der folgenden Überlegungen.

Risikomanagement – ein Dispositiv

Der aus dem Französischen stammende Begriff „Dispositiv“ wurde vom Philosophen Michel Foucault (7) als Bezeichnung für ein Ensemble von Regeln, Infrastrukturen, Institutionen, Verfahren usw. eingeführt. Gemeint ist hier ein „Apparat“ ineinandergreifender Elemente, die in ihrem Zusammenspiel die bestimmenden Normalitäten in gesellschaftlichen Wirklichkeiten erzeugen, also das, was wir gewohnterweise als „normal“ bezeichnen. „Gewohnheiten“ sind das, was wir gewohnt sind und nicht in Frage stellen – etwas gewohntes ist eben, wie es immer ist und wenn es anders als gewohnt ist dann ist es nicht mehr „normal“. In einer Situation etablierte und bewährte Orientierungsparameter oder Verhaltensregeln anzuwenden, ist in derartigen Gewohnheitsordnungen genauso selbstverständlich, wie es unverständlich, irrational, wunderlich oder absurd ist, sich eben nicht gemäss dieser Parameter und Regeln zu verhalten. Der Begriff „Dispositiv“ bezeichnet in diesem Zusammenhang das, eben diese Gewohnheitsordnungen erzeugende, „Gewebe“ der orientierenden Faktoren, die uns etwas als (un)wichtig oder (un)angemessen erscheinen lassen. Dazu zählen u.a. Weisen der Beschreibung von Problemlagen, Strategien zu deren Analyse und Bewertung, Regeln zur Findung von Handlungsmöglichkeiten, Prinzipien zur Entscheidungsfindung usw., die in einem spezifisch formierten Möglichkeitshorizont arrangiert sind und zugleich die Gewissheit vermitteln, dass dieses Arrangement Ausdruck dessen ist, was jedem vernünftigen Menschen einleuchten müsse. Zwar gibt es innerhalb des Dispositivs durchaus Spielraum für Zweifel, Befragung, Kritik etc. – aber das Dispositiv selbst steht aufgrund seiner Eigenschaft als scheinbar selbstverständlich gegebener Referenzrahmen selbst nicht in Frage, ja gerät als potentiell befragungswürdig nicht einmal in den Blick.

n diesem Sinne ist hier im Folgenden von einem Risikomanagement-Dispositiv die Rede: als einer unser Orientierungsvermögen prägenden Gewohnheitsordnung im Umgang mit Ungewissheit, egal, ob es um die potentielle Lawinengefahr bei einer Skitour im Steilgelände, die Gründung einer Familie im Lichte paralleler Karriereplanung oder Spekulationsgeschäfte am Finanzmarkt geht: das Verhältnis zur Welt wird zunehmend insgesamt als eines konfiguriert, das prinzipiell von der Idee des Risikomanagements her angelegt ist. Wenn also in Folge vor allem das Themenfeld Bergsport im Fokus ist, dann nicht, weil es der einzige Bereich der Gegenwartskultur wäre, für den die verschiedenen Befunde m.E. gelten würden. Vielmehr ist, so die These, das Risikomanagement-Dispositiv eine Art Generalbass der allgemeinen Tendenz, Lebensbedingungen durch Versicherungs- und strategische Planungsmassnahmen systematisch – in aller Ambivalenz der Formulierung – unter Kontrolle zu bringen.
Ein Beispiel dafür ist der Umstand, dass das ursprünglich durchaus differenzierte Vokabular, welches wir für die Beschreibung des Umgangs mit Ungewissheit einsetzen konnten und könnten – dazu zählen Begriffe wie Abenteuer, Wagnis und zuweilen auch der des Experiments – heute entweder quasi synonym mit dem Risikobegriff verwendet oder aber selbstverständlich als Unterkategorien des Risikokonzepts angesehen werden, die nur in Bezug auf dieses sinnvoll verhandelt werden können oder aber gänzlich aus dem entsprechenden Sprachgebrauch getilgt wurden. Dabei wird nicht nur der Risikobegriff durch seine Omnipräsenz im Alltagsdiskurs zur Selbstverständlichkeit, sondern zugleich auch die Betrachtungsweise von Wirklichkeit im Lichte des Risikogedankens quasi alternativlos – und eine Verweigerung, sich im Medium des Risikodenkens zu bewegen zur Verletzung einer scheinbaren Pflicht, sich „vernünftig“ zu verhalten. Was hier allerdings zur Pflicht bzw. zum Gebot wird, ist eine rationalisierend-kalkulatorische Weise, sich zu orientieren – eine Weise, die darauf zielt, durch die Verwandlung von der zusammenschauenden Qualität einer Wahrnehmung in eine Quantität bestimmter isolierter Wahrnehmungsaspekte, die im Abgleich mit empirisch erhobenen und so „abgesicherten“ Durchschnittswerten messbare mathematisch fundierte Kontrollfähigkeit herzustellen erlauben.

Probabilistische Revolution

Aber: dieses Ziel, wie auch die Strategien zu seiner Verwirklichung und damit auch das Denken im Risikomanagement-Dispositiv, sind nicht einfach gegeben. Sie sind Ergebnis eines kulturgeschichtlichen Entwicklungsprozesses, der im Übergang von Neuzeit und Moderne stattfand. Dabei wurde begonnen, die im Begriffsfeld Gefahr, Wagnis, Unsicherheit versammelten Problem- und Fragestellungen nicht mehr als schicksalhaftes Geschehen zu deuten, sondern mittels rationalisierender Verfahren in den Bereich des (scheinbar) Beherrschbaren zu verlagern, indem Glück und Unglück in Ertrags- und Verlustkategorien überführt und Widerfahrnis durch systematische Prognoserationalität abgelöst wurden. Am Anfang dieser Entwicklung stand das, was zuweilen die „Probabilistische Revolution“ genannt und Blaise Pascal als Gewährsmann aufgerufen wird: „Pascals Wette“ dient in diesem Zusammenhang als Paradebeispiel eines neuen Denkstils: Wenn, so Pascals Kalkül, ungewiss ist, ob Gott existiert oder nicht, zugleich aber gewiss ist, dass wenn er existieren würde nicht an ihn zu glauben fatale Folgen hätte (die Hölle), dann sollte man sich für den Glauben entscheiden – denn: der potentielle Schaden beim Glauben an einen nicht existierenden Gott ist seiner Ansicht nach signifikant kleiner als derjenige, der entsteht wenn man an einen existierenden Gott nicht glaubt: denn glaubt man trotz Ungewissheit hinsichtlich seiner Existenz an Gott, dann kommt man im schlechtesten Fall zwar nicht in den Himmel, weil es den ohne Gott gar nicht gäbe – aber man käme eben auch nicht in die Hölle wenn es Gott (und mit ihm die Hölle) gäbe. Für das Entscheidungsverhalten ist also nicht mehr Gewissheit das Kriterium, sondern der Erwartungswert und die damit verbundenen Folgen: ein Denken im Kalkül, das im Referenzsystem von Chancen und Risiken beginnt, nun zum Entscheidungsparadigma der Wahl zu werden.

Konnte Pascal noch mit einem spekulativen Gedankenexperiment operieren, war spätestens mit Beginn des 19. Jahrhunderts die Bezugnahme auf empirische Evidenzen gefragt – und es ging nicht mehr um Gottesfragen, sondern darum, ob und unter welchen Bedingungen ein Vorhaben angesichts entsprechender Chancen/Risiken-Abwägungen als aussichtsreich einzuschätzen ist: Die Frage, welche Entwicklungsszenarien vor dem Hintergrund bestimmter Kontextparameter wahrscheinlich und welche weniger wahrscheinlich waren, wurde vor allem im Zeitalter des Entstehens einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung und ihrer Logik von Investment und Ertrag immer wichtiger. Nicht umsonst entstand in diesem Zusammenhang auch das Versicherungswesen als flankierende funktionale Einheit der Industrialisierung, um im Falle des Eintretens relativ gesehen unwahrscheinlicher, aber eben nicht unmöglicher Schadensfälle für den Unternehmer einzuspringen. Dazu aber war es nötig, differenzierte Verfahren zu entwickeln, mit denen die Risiken bemessen und mit den Chancen abgeglichen werden konnten. Neben einer entsprechend leistungsfähigen Wahrscheinlichkeitstheorie und -rechnung bedurfte es dazu einer weiteren paradigmatischen Neuausrichtung der Entscheidungspraxis: die Orientierung am Durchschnitt bei der Bewertung des Einzelfalls. Anders formuliert: wozu eine bestimmte Handlung in einer bestimmten Situation führt lässt sich in diesem Paradigma dadurch prognostizieren, dass der durchschnittliche Verlauf vergleichbarer Handlungen in vergleichbaren Situationen betrachtet und prozentuelle Eintrittswahrscheinlichkeiten unterschiedlicher Verläufe bemessen werden.(8) Die Beurteilungsaufgabe wird mithin vom Entscheider wesentlich auf das Risikokalkül übertragen, gilt doch dieser Entscheider als „nur“ subjektiv, das Kalkül aber als objektiv. Was dann noch fehlt ist ein Indikator für die Wünschbarkeit der Handlungsfolgen – das Ausmass der zu erwartenden Chancen und Risiken oder aber, ökonomisch formuliert, der Gewinne und Verluste, welche aus einem Handlungszusammenhang zu erwarten sind: denn um diese Chancen und Risiken ebenso „rational“ fassen und in das Kalkül einbeziehen zu können müssen sie wie die Wahrscheinlichkeitswerte quantifiziert werden. Was hier passiert ist also eine wesentliche Verschiebung des Entscheidungsverhaltens in Richtung einer im weiteren Sinne ökonomischen Logik, die mit quantitativen Parametern operiert: Qualitäten werden zu Quantitäten umgewandelt, Urteilskraft wird als Kalkulation gefasst.

Im Risikomanagement-Dispositiv wird die Umwandlung von Qualität in Quantität, die Bezugnahme auf Durchschnittswerte als Richtmass und die Ausbildung der Urteilskraft entlang eines rationalisierenden Verfahrens, das mit potentiellen Gewinnen und Verlusten kalkuliert, zur Selbstverständlichkeit, zu besagter Gewohnheit und Norm – also schlicht normal. Diese Normalität ist jedoch äusserst ambivalent und zugleich folgenreich. Denn die dem Risikomanagement-Dispositiv unterlegten Selbstverständlichkeiten schliessen tendenziell all das aus, was als Denkalternativen zu den genannten Faktoren bzw. weitergehend den Bedingungen zur Erhebung relevanter Faktoren für das Urteilen möglich wäre – und beeinflussen so die relative Autonomie des Urteilsvermögens betroffener Aketure massiv, in dem ein Denkstil zum alternativlosen Paradigma gerinnt. Argumente, die auf eine andere „Grammatik“ der Entscheidungsfindung basieren, als die im Gewinn-Verlust-Durchschnitt-Kalkül, erscheinen vor diesem Hintergrund gar nicht mehr nachvollziehbar: weil sie irrational, verstiegen oder sonstwie ausserhalb dessen liegen, was „man“ macht, will man ernst genommen werden. Auf diese Weise bekommt das Risikomanagement-Dispositiv eine enorme Macht. Dann nämlich wird „man“ daran gemessen, ob „man“ sich den dipositivgemässen Geboten zur Beurteilung von Wirklichkeiten unterwirft oder nicht. Tut man es nicht, fällt man letztlich aus der Klasse derjenigen heraus, die als „vernünftig“ gelten und deren Beiträge als relevant gelten in der Verhandlung von sinnvollen oder eben nicht sinnvollen Entscheidungsoperationen. Und damit wird der Möglichkeitsraum für ein Denken und Handeln in Alternativen, für andere Praktiken der Urteilskraft, fundamental eingeschränkt, ja im Extremfall sogar völlig zum Verstummen gebracht.

Hoffnung und Angst

Managen, zu übersetzen etwa mit „etwas handhaben, bewerkstelligen, beherrschen, bewirtschaften“ steht heute in der Regel für einen Handlungsmodus, der vom souveränen Beherrschen einer Situation her gedacht wird. Nicht umsonst sind Komposita mit „-management“ so verbreitet – schliesslich gehört es zu den Primäranforderungen des Gegenwartscharakters, stets Herr der Lage zu sein – egal ob es um Selbstmanagement, Reputationsmanagement oder anderes geht.(10) Ein effizienter Weg, diese Forderung zu erfüllen ist die Nutzung von anerkannten „Tools“. Und genau ein solches „Tool“ ist die Risikoformel „Eintrittswahrscheinlichkeit x Schadensausmass“ und das implizite Versprechen, mit ihr eine Berechenbarkeit der Zukunft erreichen zu können.

Es ist ein wichtiger Teil der Risikodebatte, dass sie selbst das Risiko birgt, allzuviel an entsprechender Beherrschbarkeit und toolbasierter Souveränität zu suggerieren und damit eine Vernachlässigung des Faktors „Unkalkulierbarkeit“ zu befördern. Damit ist nicht nur konkret die bekannte Unschärfe gemeint, die stets bei der Bemessung von Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmass im Spiel ist – da die Informationslage mit Blick auf diese Kategorien immer unterbestimmt bleibt und aller nachgerade manischen Bemühungen zum Trotz, die Welt mit immer mehr Parametern doch noch vollumfänglich zu vermessen, stets auch un-begreiflich bleibt.(11) Vielmehr ist diese Unterbestimmtheit ein Hinweis darauf, dass die Zahl möglicher Wirklichkeiten immer grösser ist als unsere Möglichkeit, Wirklichkeiten abzusehen. Die Welt hält immer mehr potentielle Vorkommnisse bereit als wir es uns vorzustellen vermögen, weshalb – in Anleihe an ein auf den ersten Blick etwas wolkig wirkendendes Vokabular – unser „In-der-Welt-sein“ (eine Formel des Philosophen Martin Heidegger) stets auf Unerwartetes hin offen bleibt – und wir stets ein Stück weit unversichert sind. Unversichert in dem Sinne, dass uns kein Sicherheit garantierendes Regularium zuhanden ist, welches bei vorschriftsgemässem Gebrauch jede Verunsicherung ausschliessen könnte. Dies bringt, wie oben schon angesprochen, einerseits jene existentielle Unruhe mit sich, die das moderne Weltverhältnis prägt und es fortlaufend mit einer Angst um die eigene Existenz konfrontiert, die sich als Angst vor Gefahren für diese Existenz manifestiert. Doch das ist nur eine Seite der Medaille – denn zugleich schafft die Unversichertheit auch jenen Freiraum, aus dem sich erst die Offenheit unseres Vorstellungshorizonts bilden kann: also den Möglichkeitsraum, in den hinein wir unsere Vorstellungen möglicher Wirklichkeiten entwerfen und deren Realisierung anstossen können. Unversichertheit im skizzierten Sinne ist daher die quasi grammatische Grundlage der modernen Kultur, die unseren Wirklichkeitssinn stets von einem Möglichkeitssinn begleitet sein lässt und Wagnis mit Chance im Widerspiel hält.(12)

Daher kann man noch so detailliert versuchen, die Übersetzung von qualitativen Faktoren (z.B. den Wert einer spektakulären Powderabfahrt, die Angst vor einer skiunfallbedingten Querschnittslähmung, eines Seilschaftssturzes beim Gratgang oder den Lawinentod von x Personen) in Zahlen zu übersetzen, um dann ein Nutzen-/Schadensausmass zu quantifizieren und mit statistischen Werten hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, dass das ein oder andere eintritt, kurzzuschliessen: Immer bleibt dies eine „Wette“, die auf einem Amalgam von Hoffnung und Angst, von Möglichkeit und Unverfügbarkeit fusst. Und auch wenn es gute Gründe dafür gibt, dass wir pragmatisch ein Vorgehen gemäss dem Risikokalkül wählen, wenn es darum geht, effizient Entscheidungen zu treffen: zu vergessen, dass dieses letztlich aus einer Mischung aus Hoffnung und Angst getragen wird verleitet zur Unterschätzung des Bedarfs an Urteilsvermögen und der konkreten und auch sinnlichen Einlassung auf den Moment, die sich eben nicht in Strategien einer Rationalisierung im Sinne des Risiko-Management-Dispositivs aufheben lässt. Dieses stellt letztlich, zugespitzt formuliert, eher eine Massnahme zur Verdeckung der existentiellen Ungesichertheit dar – indem es verspricht, die Auseinandersetzung mit der uns prägenden Hoffnung und Angst auf eine objektive Kalkulierbarkeit überwälzen zu können.

Gewinn und Wagnis

In der Praxis des Risikomanagements geht dies so weit, dass ein Vertrauen auf die situative Urteilsfähigkeit der jeweils betroffenen Akteure und die damit verbundene Einlassung auf die Vieldimensionalität der Konstellation des Moments pauschal als kontraproduktiv bzw. sogar gefährlich gilt und deshalb explizit für ein Misstrauen gegenüber dem individuellen Urteilsvermögen plädiert wird. Hier aber ist eine Differenzierung unerlässlich: Denn es geht hier nicht darum zu bestreiten, dass die systematische Schematisierung von Handlungsmustern – z.B. im Zusammenhang mit Rettungseinsätzen oder Prävention in Routinesituationen – signifikant fehlerreduzierend bzw. überhaupt erst effektiv handlungsermöglichend sein kann.(13) In diesen Fällen ist es zweifellos sinnvoll, Komplexitätsreduktion in Form standardisierter Verfahren zu einem wichtigen Faktor des Entscheidens zu machen. Aber: dies sollte im Bewusstsein entstehen, dass hier eine Art bewusst-selbstverursachter Entmündigung in klar definierten Situationstypen stattfindet. Gleiches gilt für all die Merklisten, die allzu routinierten oder aber gerade noch nicht hinreichend routinierten Akteuren mit einer fallspezifischen Zusammenstellung von „points to consider“ helfen, bei der Situationseinschätzung relevante Punkte nicht zu vergessen – also das Urteilsvermögen zu unterstützen (nicht: es zu ersetzen). Wird diese Übertragung des (Be-)Urteilens auf entsprechende Check-Verfahren aber zum generalisierten Prinzip und eben nicht mehr als Unterstützung des Urteilsprozesses, sondern quasi als besagte Ersetzung vollzogen, dann beginnt eben auch das Vermögen zur selbstbestimmten, auf der eigenen Urteilskraft beruhenden Entscheidungsfindung zunehmend als „nur“ subjektiv diskreditiert zu scheinen. Damit werden en passant auch all jene aus der spezifischen Erfahrenheit der Akteure stammenden Einschätzungskompetenzen marginalisiert, die anderorts – wie z.B. im Bereich der wissenschaftlichen Forschung – schon lange in ihrer Bedeutung für die Erkenntnisproduktion anerkannt werden – Formen des Wissens und Könnens nämlich, die nicht verbalisierbar und formalisierbar (also auch nicht quantifizierbar) sind, zugleich aber wesentlich auf gemachte Erfahrungen zurückgreifen und in Handlungsvollzüge performativ eingebunden sind. In diesem Zusammenhang ist auch die Rede von „Intuition“ auch kein Synonym für Obskurantismus mehr, sondern anerkennt die Relevanz dieser Wissens- und Könnensformen als (auch) anzuerkennende Teil unserer Orientierungs- und Handlungskompetenz.(14)

Anders gesagt: beginnt generalisiertes Risikomanagement, in Form verbindlicher Verfahren, einer selbstbestimmten Urteilskraft das Misstrauen auszusprechen – wandelt sich also die zweifellos sinnvolle Unterstützung der selbstbestimmten Urteilskraft durch Instrumente des Risikomanagements zu einer „besseren“ Alternative der Ablauforganisation von Entscheidungsprozessen – geht auch ein autonomes Vernunftzutrauen der handelnden Personen verloren. Verschwindet aber dieses, wird fraglich, was sich von der Welt durch den Filter des Denkstils in Kategorien der Checklisten und Objektivierungen überhaupt noch zeigen kann und erfahren lässt. Denn wenn es darum geht etwas – ganz wörtlich gemeint – zu erleben, braucht es eine, nicht auf das Kalkül und aus diesem gewonnene Erwartungswerte gestützte bzw. vorgeprägte, Weltoffenheit. Der gelungene Moment, wie auch die prägende Erfahrung eines Scheiterns, ist nicht plan-, sehr wohl aber durch berechnendes Erwarten verstellbar. Ob etwas gelingt oder nicht, uns etwas bewegt oder nicht, lässt sich nicht in den Kategorien der Kalkulation fassen ohne dabei die Disponiertheit für das Erfahren eben jener überraschenden Qualitäten zu verlieren, die es erst als Gelingen oder Misslingen etc. erfahrbar machen. Das ist natürlich keine neue Einsicht. Und sie findet sich direkt im Zentrum der Debatte zum Handeln unter Untersicherheit z.B. in der altbekannten Redeweise „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“. Denn nicht umsonst wird in diesem Sprichwort hier auf das Wagnis (15) und nicht auf das Risiko abgestellt. „Wagen/Wagnis“ – begrifflich hervorgehend aus „wägen“, „in Bewegung sein“ – ist ein Begriff, der gerade nicht auf die Kalkulation, die Feststellung in der objektiven Zahl und eine abstrahierende Perspektive verweist, sondern auf die Aufmerksamkeit die konkrete Situation betreffend, das Gewichten, das Balancieren, das ständige Zuwenden zur Welt und ihrer Dynamik – im Bewusstsein davon, dass die Beurteilungen dieser Situation stets prekär und potentiell veränderungsbedürftig sind. Wenn etwas durch ein Wagnis gewonnen wurde, dann ist dieser Gewinn gerade nicht vorher kalkuliert (sondern bestenfalls erhofft), und so, wie man beim Balancieren jederzeit das Gleichgewicht verlieren und fallen kann ist hier die Gefahr, die man für den erhofften Gewinn in Kauf nimmt, nicht aus dem Bewusstsein herauszurechnen. Wie eingangs schon angedeutet, zeigt sich in der gewohnheitsmässigen Auflösung des Eigensinns der Begriffe Wagnis, Gefahr, Risiko usw. die spezifische Macht des Risikomanagementdispositivs: anders als kalkulatorisch zu denken ist nicht mehr vorgesehen.(16)

Risiko und De-Emanzipation

Und damit bin ich bei meiner zentralen These angelangt: die Generalisierung des Risikomanagement-Dispositivs trägt zu einer Entwertung der Urteilskraft und einer De-Emanzipation des Urteilenden bei. Da nämlich die Befähigung zur eigenständigen Urteilskraft ein zentrales Moment der Mündigkeit und der Befähigung zu selbstbestimmtem Handeln darstellt, gerät mit besagter Generalisierung eine gefährliche Dynamik der fortlaufenden Entmündigung insgesamt ins Werk. Dies umso mehr, wenn eine durch das Risikomanagement-Dispositiv geprägte Haltung zur Welt allgemeine Pflicht wird und sich dann immer neue Regulative aus dieser Weltsicht herleiten – Diskussionen zur Helmpflicht beim Skitourengehen oder eines Verbots nicht (halb-)automatischer Sicherungsgeräte in Kletterhallen, zugleich aber auch generelle Debatten, wie die zur immer weitergehend durch Vorschriften geprägte Ernährungskultur usw. sind Beispiele für diese normative Risikopolitik.

So sinnvoll Risikomanagement als eine pragmatische Massnahme im Umgang mit Gefahren also auch ist – so sehr birgt es im Falle seiner unkritischen Verallgegenwärtigung und der dadurch entstehenden normierenden Macht die Gefahr, das Vermögen zu einer weltoffenen Aufmerksamkeit gegenüber der Gegenwart und einer aus ihr heraus geprägten Selbstbestimmtheit des eigenen Handelns zu beeinträchtigen. Anders als der ja durchaus vernehmbare kritische Diskurs zum Risikomanagement (17) in spezifischen Bereichen – hier dem Bergsport – wo ebenfalls der Trend einer zunehmend repressiven Strategie mit mehr und mehr Vorschriften problematisiert wird, würde ich allerdings nicht für ein „Menschrecht auf Risiko“ (18) sondern für eines auf selbstbestimmte Urteilskraft fordern, also die Möglichkeit, eine eigenständige Einschätzung der Dinge und der jeweiligen Bedingtheiten vornehmen zu können. „Urteilskraft“ ist dabei keineswegs ein ominöser, sondern ein vom nicht gerade als Speerspitze des Irrationalismus bekannten Immanuel Kant wesentlich mitgeprägter Begriff. Kant bezeichnet so ein besonderes Erkenntnisvermögen, dasjenige nämlich, zwischen Besonderem und Allgemeinem zu vermitteln. Es ist eine konstitutive Kompetenz der Vernunft, die als eine Praxis der fortlaufenden Inbezugsetzung von sinnlich-ästhetischer Wahrnehmung und begrifflich-rationalen (Verstandes-)Regeln zu verstehen ist. Damit ist auch gesagt, dass Vernunft im Sinne einer praktizierten Urteilskraft nicht in verstandesgemässem Entscheidungsoperationen bzw. der Ableitung von Handlungsstrategien aus Regeln aufgeht, sondern diese Dimension immer nur ein Teil dessen ist, was vernünftige Welterschliessung und Orientierung ausmacht. Ohne entsprechende Fähigkeiten, sich auf das Hier- und Jetzt der Welt einzulassen und im Lichte einer entsprechenden Erfahrenheit mit den möglichen Bedeutsamkeiten in spezifischen Konstellationen abwägend umzugehen helfen also die klarsten Verstandesregeln und aus ihnen gewonnene Tools nichts.

Die Schaffung und Erhaltung von Urteilskraft in besagtem Sinne erfordert aber bestimmte Bedingungen, wozu nicht zuletzt auch Zeit und Raum für das Sammeln von Erfahrungen im Scheitern der Erwartungen wie auch eine die Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitskompetenz bildende ästhetische Kompetenz gehört: ein Vertrauen in und ein Zutrauen zur wahrnehmenden Weltoffenheit, die das, was sich in der Welt zeigt, nicht schon von vorneherein allein durch die engen Raster einer verstandesgemässen Annährung zu betrachten verlangt. Dann – aber eben erst dann – kann auch die Perspektive eines kalkulierenden „Managens“ fruchtbar ins Spiel kommen. Ein vernünftiges Weltverhältnis ist also immer eines, das Verstand und Sinnlichkeit gleichermassen ernst nimmt, das Gespür und Kalkül, Erfahrenheit und Intuition sowie formale Analyse nicht gegeneinander ausspielt, sondern als komplementäre Seiten einer Orientierungspraxis sieht, die sich auf die Komplexität der Welt im Sinne eines „In-der-Welt-seins“ einlässt.(19)

Lust und Erfahrung

Abschliessend nochmals etwas spezifischer zurück zum Risikomanagement im Bergsport. Mehr und mehr rationalisierende Tools ohne gleichzeitige Massnahmen zur Ausbildung einer, wie eben skizzierten, selbstbestimmten Urteilskraft, die sich aus einer entsprechend ausgebildeten Aufmerksamkeit speist, fördert die schon jetzt spürbare Empfänglichkeit dafür, hörig zu sein gegenüber all den Regeln und Verboten, die unseren Alltag im allgemeinen und auch den Bergsport im Speziellen mehr und mehr regulieren. Ebenfalls gefördert wird die Empfänglichkeit für die vielfältigen Angebote der Bergsportindustrie und Ratgeberflut, die mit immer neuen technischen Lösungen und Verhaltensregeln die Erfüllung der Risikopflicht scheinbar leichter macht – mit Lawinenairbag fühlt es sich „sicherer“ an, die fortlaufende Messung des Herzschlags erlaubt die Kontrolle der empfohlenen Normwerte und, man soll ja auch das Leben risikomanagerial betrachten – das alkoholfreie Bier nach der Bergtour verspricht ein geringeres Gesundheitsrisiko, besser Müsliriegel als Speckbrot usw.

Letztlich mag es ja ein trotz alledem verbleibendes unbewusstes Unbehagen gegenüber dieser vielgestaltig wirkenden Entmündigungsdynamik sein, die manche Lust daran steigert, doch auch etwas zu wagen und dabei ggf. eine allzu gewagte Trotzreaktion zu vollziehen, bei der die sinnvoll dosierte Einbeziehung risikokalkulatorischer Betrachtungsweisen eben nicht mehr genug Raum im Urteilsvermögen einnimmt und die Urteilskraft nur beschnitten zum Einsatz kommen darf. Oder es ist nicht Trotz, sondern schlicht der Eigensinn, im Moment selbstbestimmt zu entscheiden: eine Situation, die manchem Teilnehmer von geführten Skitouren bekannt sein dürfte, ist die leise oder laute Überlegung „wenn es allein nach den Normfaktoren geht bleiben wir am besten gleich ganz zu Hause“. Das nicht zu tun ist aber eben nicht gleich unverantwortlich – es ist (zumindest im Falle entsprechend kompetenter Leitungspersonen) ein Beharren darauf, dass Erfahrung und Aufmerksamkeit im Zusammenspiel mit dem Risikodenken in der Urteilskraft zu vermitteln sind. Und die Vermittlung der Kompetenz dieser Vermittlungsfähigkeit wäre daher dasjenige, was dem prêt-à-porter Urteilsvermögen der Reduktionsmethoden, stop-and-go-Schemata und Co. mit Nachdruck zur Seite gestellt werden müsste. Schliesslich: die davon ausgeht, dass am Berg ohne Wagnis – ggf. ein bewusstes Wagnis, dass im tödlichen Unfall münden kann und können muss – nichts zu gewinnen ist.

Vielleicht wäre es daher sinnvoll zu überlegen, wie zum vorschreibenden Denkstil des Risikomanagements ein anderer, Hoffnung und Angst zulassender Raum hinzugefügt werden kann, ein Raum, in dem andere Formen und Praktiken, andere Parameter und Relevanzen des Urteilens verhandelt werden können, ohne gleich als irrationale Verstiegenheit abgewertet zu werden; und so wieder erkennbar und ermutigend möglich wird, dem Phantasma der Beherrschbarkeit sowie der von daher befeuerten Bereitschaft, das Leben nach dem Regelwerk vorgeblich rationaler Verhaltensvorschriften, dem Urteil der „Experten“ oder den Versprechen der Ausrüstungsproduzenten auszurichten, eine Lust an weltoffener Erfahrung entgegenwirken zu lassen. Dabei geht es nicht um eine pauschale Rückabwicklung der intensiven und fruchtbaren Entwicklung in der Lawinenforschung der letzten 30 Jahre, hin zu einer affirmativen Rückbesinnung auf alte Rezepte. Sondern darum, diesen Diskurs seinerseits darauf hin zu befragen, aus welchem Regime des Denkens er seine Selbstverständlichkeiten bezieht, was dies für das Bild vom Menschen und seinem Weltverhältnis heisst und was damit alles aus dem Lebensvollzug ausgeblendet wird. Es geht, anders gesagt, darum, ein gleichermassen realistisch-pragmatisches wie auch dem menschlichen „In-der-Welt-sein“ angemessenen Einsehen, dass sich Lust am Leben ohne Vertrauen in das eigene Vermögen im Umgang mit der grundlegenden Ungesichertheit und Unversicherbarkeit der eigenen Existenz nicht befriedigen lässt. Am Berg und – noch wichtiger – in den anderen Lebenszonen.

Anmerkungen

(1) Kontakt: jens.badura@gratgang.ch

(2) Vgl. zur Unfallstatistik die Erhebungen des Österr. Kuratoriums für alpine Sicherheit und das dort herausgegebene Periodikum analyse:berg, (http://www.alpinesicherheit.at, abgerufen am 29.09.2015) bzw. WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF (http://www.slf.ch, abgerufen am 19.09.2015)

(3) Genannt sei hier nur ein Standardwerk: Munter, Werner: 3 x 3 Lawinen: Risikomanagement im Wintersport, Garmisch-Partenkirchen: Pohl und Schellhammer 2003.

(4) Vgl. dazu u.a. das Risikomanagement-Tool des Schweizer Institut für Schnee und Lawinenforschung (SLF) (http://www.slf.ch/praevention/verhalten/Risiko-Check/index_DE; abgerufen am 25.9.2015) und die Darstellung des vom Österr. Alpenverein empfohlenen Modell „Stop or Go“ von Michael Larcher in bergundsteigen 4/2012 (http://www.bergundsteigen.at/file.php/archiv/2012/4/54-63%20(stoporgo).pdf; abgerufen am 25.9.2015). Dabei ist allerdings zu bemerken, dass die Zahl derjenigen, die sich weiterhin ohne Standardausrüstung (Lawinenverschütteten Suchgerät, Schaufel und Sonde) bewegen, immer noch beträchtlich ist.

(5) Interessant ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass die eben schon zitierte Zeitschrift bergundsteigen als die einschlägige Publikation zum Thema im deutschsprachigen Raum den Begriff „Risikomanagement“ aus dem Untertitel gestrichen und durch „Berge – Menschen – Unsicherheit“ ersetzt hat. Inwieweit sich diese Distanznahme vom Risikomanagement-Begriff auch programmatisch in den Inhalten manifestieren wird, bleibt abzuwarten. Vgl. dazu auch Endnote 14 und den dort zitierten, entsprechend problemaufschliessenden Text von Thomas Pflügl.

(6) „There is no alternative“, eine von Magret Thatcher in den 1980er Jahren geprägte Formel zur Scheinrechtfertigung unpopulärer und fragwürdiger politischer Massnahmen, zu denen eine ernsthaft politische Auseinandersetzung vermieden werden sollte.

(7) Vgl. Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve 1978, S. 119f.

(8) Vgl. dazu Ewald, François: Der Vorsorgestaat, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993.

(9) Zwar ist die etymologische Herleitung des Managementbegriffs nicht eindeutig geklärt, aber eine Herkunft vom lat. manus (Hand) ist wahrscheinlich: somit ist die Übersetzung „Handhabung“ naheliegend – wie auch der Assoziationszusammenhang mit „anpacken, bewerkstelligen“; vgl. dazu Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprach/Kluge, bearb. von Elmar Seebold, 24. Aufl., Berlin/New York: de Gruyter 2002, S. 594.

(10) Aufschlussreiche Analysen in dieser Hinsicht wurden im Rahmen der sogenannten „gouvernementality studies“ unternommen, die die Invasion eines managerialen Denkstils in vielerlei Lebensbereiche in den Blick nehmen; vgl dazu z.B. Lemke, Thomas/Bröckling, Thomas, Krasmann, Susanne (Hg): Gouvernementalität der Gegenwart – Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001.

(11) Beliebt ist hier die Rede vom sogenannten „Restrisiko“. Der Begriff an sich ist allerdings irreführend, verschleiert er doch letztlich, dass es bei dem Gemeinten um eben jenen unkalkulierbaren Rest geht, der sich jeder Risikobemessung entzieht. Ein Risiko ist per Definition als Produkt von Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmass immer objektivierbar und grösser oder kleiner gemäss den verwendeten Faktoren – hier gibt es keinen unbestimmten Rest. Was dagegen bleibt ist dasjenige, was sich im Medium des Risikokalküls nicht ausdrücken lässt und damit dessen Leistungsgrenze markiert. Sinnvoll wäre der Begriff nur dann, wenn hier Risiko zweiter Stufe gemeint wäre: also das Risiko, dass die Risikobemessung nicht zutrifft – was aber das Problem nur verschiebt, da wiederum die Unkalkulierbarkeit zu kalkulieren versucht wird.

(12) Der berühmt gewordene Begriff des „Möglichkeitssinns“ entstammt Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“, eine genauere Einordnung dieser Überlegungen in einem weiteren kulturgeschichtlichen Kontext liefert der Kultursoziologe Michael Makropoulos (Ders.: Modernität und Kontingenz, München: Fink 1997).

(13) So z.B. Gigerenzer, Gerd: Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, München: Bertelsmann 2013, S. 18f. Der Autor geht diesbezüglich aber deutlich weiter: „Mehr Information ist immer besser. Mehr Rechnen ist immer besser. Derartige Ratschläge erscheinen so offensichtlich, dass sie nur wahr sein können. Wie wir sehen werden, ist diese Annahme ein großer Fehler. In einer ungewissen Welt sind komplexe Methoden der Entscheidungsfindung, die auf mehr Informationen und Berechnungen setzen, häufig schlechter und können Schaden anrichten, weil sie die ungerechtfertigte Hoffnung auf Gewissheit wecken.“ Gigerenzer plädiert vor diesem Hintergrund für die Reduktion von Parametern und die Rehabilitierung von Faustregeln als Orientierungsmittel, um das Verhältnis von Effektivität und Effizienz im Entscheidungsprozess zu verbessern. Aber: es geht eben nicht nur um die Menge an Information und Berechnung, sondern auch um die Qualität und die Legitimität der Quellen dieser Information, also die Frage, was hier an Information und welche Weisen der Einbeziehung in Entscheidungsprozesse als berücksichtigenswert anerkannt werden: hier wäre eine Debatte anzuschliessen um dann zu fragen, welche der Informationstypen sich überhaupt für Berechenbarkeit eignen.

(14) Der Klassiker im Rahmende der Diskussion ist Michael Polanyis „Tacit knowledge“, vgl. dazu Polanyi, Karl: Implizites Wissen, Frankfurt/M. 1985, aus der jüngeren, die wissenschaftliche Praxis spezifisch aderessierenden Diskussion vgl. Rheinberger, Hans-Jörg: „Mischformen des Wissens”, in: Ders.: Iterationen, Berlin: Merve 2005, S. 74-100. Insgesamt ist nicht erst seit heute eine intensive Auseinandersetzung zu den Rahmenbedingungen von forschender Erkenntnisproduktion im Gange, wobei die Beschränkung rationalisierender Verfahren sehr konkret in wissenschaftshistorischen, -philosophischen und –soziologischen untersucht und zugleich das Potential alternativer Weisen einer forschenden Welterschliessung – etwa durch künstlerische Praktiken – verhandelt wird. Vgl. dazu Badura, Jens/Dubach, Selma/Haarmann, Anke et al. (Hg.): Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich/Berlin: diaphanes 2015.

(15) Der Wagnisbegriff wurde im Zusammenhang mit der Risikodebatte im Bergsport insbesondere durch den Pädagogen Siegbert R. Warwitz vertreten, vgl. z.B. Warwitz, Siegbert R.: Sinnsuche im Wagnis. Leben in wachsenden Ringen. Erklärungsmodelle für grenzüberschreitendes Verhalten, Baltmannsweiler: Schneider 2001; sowie: Ders.: „Wagnis muss sich lohnen“, in: bergunsteigen 3/11, S. 41-46. Warwitz Ansatz ist allerdings als auf einer (in ihrer weltanschaulichen Vehemenz durchaus diskussionsbedürftigen) pädagogischen Anthropologie fussende, normativ-ethische Position konzipiert, und nicht auf das hier verhandelte Thema „Risikomanagementdispositiv fokussiert.

(16) Ein Beispiel für entsprechende Gleichsetzungen ist etwa die Formulierung „Risiko (als Wagnis)“ im ansonsten sehr schlüssig und komplexitätsorientiert formulierten Risiko-Manifest des Österr. Alpenvereins: _jugend_ueber-uns_downloads_leitbild-mission_Risiko-Manifest_OeAV-2.pdf

(17) Vgl. z.B. jüngst Pflügl, Thomas: „Wieviel Unsicherheit braucht der Mensch“, in: bergundsteigen 91/2015, S. 30-43.

(18) Vgl. dazu Werner Munter im Tagesanzeiger vom 29.1.2015: http://www.tagesanzeiger.ch/leben/gesellschaft/Risiko-ist-ein-Menschenrecht/story/19390762 (abgerufen am 25.9.15)

(19) Bei solchen, die Intuition einschliessenden Argumentation ist der Grat schmal zum Abgleiten ins Esoterische. Versteht man unter Intuition aber pragmatisch einen noch nicht begrifflich geschärften Rückgriff auf in der Erfahrenheit eingelagerten Beurteilungselemente – also etwas, das buchstäblich „in den Sinn“ kommt, dann ist die Bezugnahme auf Intuitionen keineswegs obskur: wie andere Aspekte auch bedarf die Bezugnahme auf Intuition nur auch der Urteilskraft, um in Einschätzungs- und Entscheidungsprozessen fruchtbar gemacht zu werden. Diesbezüglich wäre es allerdings wichtig, wenn mehr Sorgfalt in der Verwendung des Begriffs aufgewendet würde – von denen, sie ihn zum zentralen Faktor einer erfolgreichen Entscheidungspraxis erkläRen wie auch von jenen, die Intuition für eine fatale Informationsquelle erachten. Ähnliches gilt für die Vokabel „ganzheitlich“ – wird diese nicht hinreichend spezifiziert und von mehr oder weniger esoterischem Beiwerk freigehalten, geraten auch durchaus bedenkenswerte Ansätze wie z.B. im Bereich der Lawinenprävention der von Florian Schranz in eine bedauerliche Schieflage und drohen zur reinen Glaubenssache zu werden; vgl. Schranz, Florian: Berg-Sein. Ein möglicher, natürlicher und praxisbezogener Leitfaden für eine ganzheitliche Beurteilung der Lawinengefahr, Ried: Eisalpin 2014.

ÜBER DEN AUTOR

Jens Badura

Jens Badura testet Ausrüstung für ich-liebe-berge.ch – und schreibt dort wie anderswo regelmässig über alpine Belange diverser Art. Er ist Mitglied der Österreichischen Bergrettung (Ortsstelle Salzburg), Tourenleiter für Berg- und Alpinwandern beim Schweizer Alpenclub (SAC) und Bergwanderführeranwärter beim Verband Deutscher Berg- und Skiführer/Union of International Mountain Leader Association (UIMLA). Er leitet das berg_kulturbüro in Berchtesgaden, führt für die Bergsteigerschule Watzmann und ist Mitglied im Kernteam der Bergwanderakademie „ready to go“ der Bergschule „Alpine Welten“. Er lebt mit seiner Familie und einer Herde Alpiner Steinschafe am Walserlehen in Marktschellenberg.

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