Kommentar zu Zwischen Wildnis und Freizeitpark von Werner Bätzing

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Ein Denken in Szenarien ist häufig hilfreich, um sich mögliche Wirklichkeiten nicht nur abstrakt als Summe von Einzelvorstellungen und Prognosen, sondern als narrativen Zusammenhang denken: es sind Katalysatoren der Vorstellungskraft mittels Veranschaulichung komplexer Zusammenhänge. Der Geograph Werner Bätzing, emeritierter Kulturgeograph und bekannter Alpenforscher, wählt in seiner “Streitschrift zur Zukunft der Alpen” (Zwischen Wildnis und Freizeitpark, Zürich: Rotpunktverlag 2015) ein solches Vorgehen. Er skizziert fünf “Zeitgeist-Perspektiven” auf die Entwicklung der Alpen und stellt diesen eine (seine) “unzeitgemässe” entgegen. Das prägnante 145 Seiten umfassende Buch ist eine redaktionell verdichtete Auskopplung aus der Neuauflage von seinem Klassiker “Die Alpen. Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft” (München: Beck 2015, 4. völlig überarbeitete Auflage).

Der Zeitgeist bietet nach Bätzing folgende Varianten zur Zukunftsgestaltung der Alpen an:

  • die wirtschaftliche “Entwicklung” des Alpenraums durch konsequente infrastrukturelle Massnahmen mit dem Ziel, ihn möglichst weitgehend in das sozioökonomische Normalmodell zu integrieren;
  • eben gerade dies nicht zu tun sondern ihn als einen randständigen Bereich gegenüber den dynamischen Metropolregionen auf kleinstem Feuer kochen zu lassen bzw. perspektivisch aufzugeben;
  • den Alpenraum gezielt als eine Art Freizeitpark zu positionieren und gemäss den strategisch vermessenen Erwartungshorizonten potentieller Kunden zur Eventzone umzugestalten;
  • ihn zur grossangelegten Energiemanagement- und Wasserverwaltungzone zu erklären, zu einem gigantischen Reservoir- und Pumpspeichersystem zu verwandeln und damit ganz auf den geostrukturell naheliegenden Trumpf des Stauvermögens zu setzen
  • schliesslich die “hands off” Perspektive, die den Alpenraum zu einer grossflächigen Naturparkzone deklariert und entsprechend drakonisch den Zugang reglementiert.

All diesen Szenarien wohnt ein gewisser Realitätsbezug inne, heuristische Zuspitzung hin oder her. Dramaturgisch ist Bätzings nächster Schritt, nämlich seinen eigenen Vorschlag auszulegen, daher gut gebahnt und darüber hinaus auch gesättigt mit Wissen und Gespür für das, was den Alpenraum zu etwas besonderem, eigenwilligen und pfleglich zu behandelndem Fall macht. Er plädiert dabei für eine Strategie, die den Sonderfall Alpen als eine Art Indikator für den allgemeinen Trend gobaliserungsbedingter Probleme zu sehen und konsequent in Richtung einer dezentralen Nischenökonomie zu entwickeln, die die verschiedenen Dimensionen einer nachhaltigen Entwicklung (Mensch, Natur, Ökonomie) jeweils ernst nimmt: als einen kleinräumig strukturierten, spezifische Lebens- und Produktionsweisen fördernden Zusammenhang, der sich dem Trend zur neoliberalen Ausbeutung von Mensch und Natur sowie der auf Rationalisierung hin orientierten Prägung des Denkens modellhaft entgegenstellt – als “Ort guten Lebens”.

Allerdings ist diese ja zweifellos charmante Betrachtung doch stark durch die etwas pauschal geratene Neoliberalisierungsdiagnose grundiert und gefärbt, welche von Bätzing die Rolle der dunklen Kulisse für seinen Vorschlag zugewiesen bekommt. Hier wird das bekannte Vokabular (Globalisierung, Zentralisierung, Rationalisierung) – und zugleich die Zukunft der Alpen in Kontext einer problematisch verlaufenden Globalisierung stellt. In den diskursiven Konjunkturen der globalisierungskritischen Debatte ist der Kollektivsingular “Neoliberalismus” zwar anerkanntes Passepartout für allumfassende Schuldzuweisungen, doch dies allein sichert noch nicht die Validität der Diagnose im Detail der Alpenproblematik – hier wäre dann doch etwas mehr – auch historische – Differenzierung wünschenswert. Denn nicht alle problematischen Entwicklungen, die Bätzing adressiert, sind erst im Zuge der Durchsetzung globalisierungslogischer Modelle im Geiste neoliberaler Ökonomie entstanden: Naturausbeutung oder Zerstörung, Landflucht, tourismuswirtschaftliche Ambienteinszenierungen usw. haben eine durchaus längere Geschichte und sind schlicht auch mit der (nicht neo- sondern liberalen) Durchsetzung von Selbstbestimmung der Menschen zu tun, die sich gegen die Beschwerlichkeiten eines naturnahen Lebens entscheiden und den Erhalt von Traditionen nicht mehr einfach als Selbstverständlichkeit anerkennen oder aber so etwas wie Freizeit haben und gestalten wollen.

Schliesslich: die von Bätzing anempfohlene Strategie eines “Klein aber fein”, die mit Nischenproduktion und Hochqualitätangeboten ihren unique selling point generiert und dabei ökonomisch, ökologisch und kulturell zur Modellregion zukunftsfähig-nachhaltiger Entwicklung werden soll, scheint zwar auf den ersten Blick attraktiv, bei genauerem Hinsehen nicht ganz unproblematisch: was hier droht ist die Entstehung eines Ghettos der Privilegierten, die sich entsprechende Angebote auch leisten können.

Natürlich: damit dies nicht geschieht muss ja gemäss der Neoliberalismuskritik gross gedacht und das System insgesamt umgebaut werden, damit solche aus Ungleichverteilung erwachsenden Ungleichheiten abgebaut werden. Das ist sicher bedenkenswert und eine wünschenswerte Vorstellung, aber es steht hier eine hochkomplexe Debatte auf politisch-grundsätzlicher Ebene, bei der gut und böse nicht ganz so einfach zuzuordnen sind wie manche Neoliberalismuskritik das gerne hätte, und der konkrete Bedarf an pragmatischen Handlungsperspektiven zur Gestaltung des Alpenraums etwas quer zueinander: letztgenannte folgen nicht einfach aus dem vorherigen, denn dieses ist eben nicht so schwarzweiss abzubuchen, wie es dargestellt wird. Aber: nicht umsonst ist das Buch als Streitschrift deklariert – und diese Textsorte so wie von Bätzing bespielt kann entsprechende Pauschalisierungen durchaus vertragen.

Daher bietet Bätzings Text ein sehr bedenkenswerte Lektüre, zusätzlich flankiert von vielen weiterführenden Informationen und Quellen. Und: der Umstand, dass das Buch durch die Art der Darstellung seit dem Erscheinen eine breite Resonanz gefunden und damit (wie schon durch viele andere Beiträge von Bätzing) die Debatte zur Zukunft des Alpenraums wieder in breiterer Öffentlichkeit mobilisiert hat kann dem Autor kaum genug als grosses Verdienst anerkannt werden.

Werner Bätzing: Zwischen Wildnis und Freizeitpark, Zürich: Rotpunktverlag 2015, 145 S.

ÜBER DEN AUTOR

Jens Badura

Jens Badura testet Ausrüstung für ich-liebe-berge.ch – und schreibt dort wie anderswo regelmässig über alpine Belange diverser Art. Er ist Mitglied der Österreichischen Bergrettung (Ortsstelle Salzburg), Tourenleiter für Berg- und Alpinwandern beim Schweizer Alpenclub (SAC) und Bergwanderführeranwärter beim Verband Deutscher Berg- und Skiführer/Union of International Mountain Leader Association (UIMLA). Er leitet das berg_kulturbüro in Berchtesgaden, führt für die Bergsteigerschule Watzmann und ist Mitglied im Kernteam der Bergwanderakademie „ready to go“ der Bergschule „Alpine Welten“. Er lebt mit seiner Familie und einer Herde Alpiner Steinschafe am Walserlehen in Marktschellenberg.

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